Ort der Erinnerung verschwindet

Ort der Erinnerung verschwindet

Lage-Billinghausen.

Der Abriss und der Rückbau der ehemaligen Grundschule Billinghausen sowie des dazugehörigen Hausmeisterhauses wurden bzw. werden in diesen Tagen vollzogen. Das Hausmeisterhaus war bereits vor etwa drei Wochen (Mitte September 2022) abgerissen worden. Danach wurde das Schulgebäude fachgerecht entkernt und wurde bzw. wird derzeit abgerissen.

Mitte Mai 2022 hatten die Stadtverwaltung sowie der Bau- und Planungsausschuss die Abrissarbeiten in nicht-öffentlicher Ausschusssitzung an das bekannte Gütersloher Abbruch- und Altlastensanierungsunternehmen Hagedorn vergeben. In der Bau- und Planungsausschusssitzung gut zwei Wochen zuvor (= 26. April) waren planerisch die letzten Weichen gestellt worden, die Schulimmobilie abzubrechen, um hier und auf dem benachbarten Spielplatz Einsteinstraße insgesamt vier Baugrundstücke für Einfamilienhäuser entstehen zu lassen.

Bereits im Oktober 2021 hatte der Stadtrat einstimmig beschlossen, die nötigen Änderungsverfahren für den bestehenden Bebauungsplan „Sängerstraße“ einzuleiten. Der Bau- und Planungsausschuss beschäftigte sich am vergangenen Mittwoch, 28. September 2022, letztmals mit der Bebauungsplanänderung, und zwar zustimmend. Der Stadtrat wird die Planänderung auf seiner kommenden Sitzung am Donnerstag, 20. Oktober, beschließen und in Baurecht umwandeln. Spätes­tens wenn die vier neuen Häuser gebaut werden, werden die Erinnerungen an das Schulgebäude und damit auch an die Grundschule Billinghausen verblassen und letztlich verwehen.

Wenn ein Schulgebäude ersatzlos verschwindet, bedeutet das für viele Menschen einen tieferen Einschnitt als der Abriss anderer Häuser. Denn es sind in der Tat viele Menschen – in der Regel weitaus mehr als bei einem Wohnhaus – die am Schulgebäude Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend festmachen. „Hier, in diesem Gebäude, sind wir vor Jahren eingeschult worden. Herr Wulf war der Schulleiter und Frau Klöber unsere Klassenlehrerin.“ Solche Sätze wird man in Billinghausen an der Sängerstraße nicht mehr formulieren können. Zwar mussten auch andere Ortsteile sich von ihren Schulen trennen, aber nicht selten blieben die Gebäude erhalten und nehmen, wenngleich mit anderer Zweckbestimmung, ihre Funktion als Erinnerungsort an Kindheit und Jugend noch wahr – z.B. die ehemalige Kreis-Berufsschule in der Schulstraße 3, die heute als Fachseminar für Altenpflege genutzt wird.

Das Schulgebäude in Billinghausen diente nicht nur Schulzwecken, sondern auch der Ortsteilgemeinschaft. Im Frühjahr 2011 beschloss der Stadtrat, dass an der Grundschule Billinghausen zu Beginn des Schuljahres 2011 / 2012 keine Schulanfänger mehr aufgenommen werden und dass in Billinghausen keine neue erste Klasse mehr eingerichtet werde. Die Schule werde auslaufend aufgelöst. Das Ende kam eher. Bereits im Jahr 2013 wurde die Schule endgültig geschlossen. Die Einstellung des pädagogischen Betriebes erfolgte zum Schuljahresende am 31. Juli 2013.

Ende der Schul-Zeit

Damit endete eine länger als zwei Jahrzehnte währende „Schul-Zeit“ in Billinghausen, während der insbesondere die Schul-Aula den örtlichen Vereinen als Treffpunkt und Veranstaltungsraum diente. Der AWO-Ortsverein Müssen-Billinghausen unter dem Vorsitz von Ernst Wittbrock und danach Ralf Fischer hielt hier seine Jahreshauptversammlungen ab, ehrte in der Aula die Jubiläumsmitglieder und bot hier seine AWO-Tagesstätte an.

Die Aula war neben dem Haus des Gastes in Hörste u.a. auch der Ort, wo sich die sogenannten „Tschernobylkinder“ aus der weißrussischen Stadt Mosyr und die Kinder aus Billinghausen begegneten. Im Herbst 1993 war in Hörste der Verein „Partner von Tschernobyl Lage-Hörste“ gegründet worden, der seit dem Frühjahr 1994 alljährlich einer Kindergruppe aus Mosyr (80 Kilometer entfernt von Tschernobyl) einen mehrwöchigen Erholungsaufenthalt in Hörste und Umgebung ermöglichte. Ebenfalls im Jahr 1993 gingen die Grundschule Billinghausen und die Schule 13 in Mosyr eine Schulpartnerschaft ein, denn in der Schule in Billinghausen nahmen die „Tschernobylkinder“ an Unterrichtsstunden teil beziehungsweise wurden u.a. hier von ihren mitgereisten Lehrern unterrichtet.

Gedenkveranstaltung

Im April 2006 nahmen in der Detmolder Christuskirche Kinder der Grundschule Billinghausen und der Schule 13 teil an einer lippeweiten Gedenkveranstaltung für die Opfer und Leidtragenden der Tschernobyl-Katastrophe 20 Jahre zuvor. Die Kinder aus Billinghausen und aus Mosyr sangen gemeinsam Lieder und alle Besucher der Gedenkveranstaltung zeigten sich sehr beeindruckt von der grenz- und sprachübergreifenden Schulzusammenarbeit Billinghausen-Mosyr.

All dies ist mittlerweile Geschichte und nimmt in der allgemeinen Erinnerung keinen Platz mehr ein. Der Abriss des Schulgebäudes wird diesen Prozess des Vergessens besiegeln, weil nun der Hauptort der Erinnerung nicht mehr exis­tiert.

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